Kommerzialisierung und Gemeinnützigkeit – ein Widerspruch?

Podiumsdiskussion beim 72. Deutschen Genealogentag 2022 in Tapfheim, Bayern

Die Podiumsdiskussion des 72. Deutschen Genealogentags am 3. September 2022 befasste sich mit dem Spannungsfeld zwischen Kommerzialisierung und Gemeinnützigkeit genealogischer Tätigkeiten. Unter den Diskussionsteilnehmer waren alle relevanten genealogischen Gruppen vertreten: Anwender, Vereine, Archive, Wissenschaft, aber auch kommerzielle Anbieter. Unter der Moderation von Thomas Aigner (ICARUS) diskutierten Mario Felkl (Stadtarchiv Augsburg), Edgar Hubrich (GFF, DAGV), Katrin Moeller (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Peter Rassek (Ancestry) und Manfred Wegele (BLF, ICARUS4all, DAGV).

Dialog und Zusammenarbeit

Bereits die Eingangsstatements zeigten, dass sowohl die Nutzer- als auch die Anbieterseite den Erfahrungsaustausch und die Zusammenarbeit als wesentlich betrachten. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Praxis wurde gezeigt, dass der konstruktive Dialog zwischen Archiven und Vereinen für beide Seiten vorteilhaft ist. ICARUS4all-Präsident Manfred Wegele erläuterte die Vorgehensweise beim aktuell durchgeführten Projekt des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde e.V. und des Staatsarchivs München, in dessen Rahmen die Nachlass- und Erbrechtsregister der Amtsgerichte München Stadt und Schrobenhausen erfasst, die Daten nach der Erfassung online gestellt und so für Archivbenützer verfügbar sind. Edgar Hubrich betonte, dass die Zusammenarbeit mit professionell ausgestatteten Vereinen vor allem für kleine Gemeindearchive Möglichkeiten der Digitalisierung und Auswertung bieten kann. Umgekehrt stießen Vereine bei Großprojekten allerdings oft auch an die Grenzen der Machbarkeit, sodass das Angebot kommerzieller Anbieter den Forschenden in diesen Bereichen eine wertvolle Ergänzung zu ehrenamtlich erarbeiteten Inhalten bietet. In diesem Zusammenhang verwies Mario Felkl auf personelle und finanzielle Einschränkungen, die Archive unter Umständen daran hinderten, ehrenamtlich erstellte Digitalisate in die Archivbestände einzubinden. Wie Peter Rassek aufzeigte, können Kooperationen zwischen Archiven und Ehrenamtlichen auch auf einer weiteren Ebene stattfinden, nämlich durch „bedarfsorientierte“ Digitalisierung durch die Forschenden selbst. So bietet etwa das Nationalarchiv von Estland an, ein noch nicht digitalisiertes Buch zu beiderseitigem Nutzen selbst zu digitalisieren, indem solcherart ein Digitalisat sowohl für den Nutzer als auch für das Archiv entsteht.

Die Grenze zwischen kommerziell und gemeinnützig

In einem weiteren Schwerpunkt der Gesprächsrunde gingen die Teilnehmer auf die Grenze zwischen „kommerziell“ und „gemeinnützig“ ein. Sei es ein Abonnement bei einem kommerziellen Anbieter, eine Archivnutzungsgebühr oder ein geschlossener Mitgliederbereich eines Vereins, sogenannte „Bezahlschranken“ finden sich auch in der genealogischen Praxis. Wie Mario Felkl anmerkte: „Auch Ortsfamilienbücher werden verkauft, um das Vereinsheim heizen zu können“. Das Podium war sich auch dahingehend einig, dass bei der Nutzung nicht digitalisierter Primärquellen für die einzelnen Forschenden natürlich auch Reisekosten entstehen. Das Fazit dieses Diskussionsblocks lautete daher „Reisekosten versus Portalgebühren“.

Open data

Mit dem Stichwort open data brachte Katrin Moeller einen bisher wenig beleuchteten Aspekt in die Diskussion ein. Ehrenamtlich Tätige produzieren in Crowdsourcing-Projekten oder eigenständiger genealogischer Arbeit Inhalte, die in ihrer Gesamtmenge Kulturgut darstellen. Wenn diese Inhalte ausschließlich bei kommerziellen Anbietern verfügbar sind, ist eine wissenschaftliche Verwendung, auch durch Vereine, nur eingeschränkt möglich. In wirtschaftlich angespannten Zeiten besteht für Moeller die Gefahr, dass geisteswissenschaftliche Institutionen keine Finanzierung von Abonnements oder Mitgliedschaften erhalten und so ein wesentlicher, ehrenamtlich generierter Datenschatz wissenschaftlich nicht auswertbar ist. Eine Vernetzung der Daten, wie sie beispielsweise in der Time Machine umgesetzt wird, ist mit kommerziellen Daten dann nicht möglich.

Die Resümees der Podiumsteilnehmer

Die Pandemie hat viele Verbindungen zwischen Archiven und ehrenamtlich Tätigen unterbrochen. Um die Sichtbarkeit von Archiven wieder zu erhöhen, plädierte Mario Felkl unter anderem für Informationsveranstaltungen. Für Manfred Wegele wieder zeigte sich, dass die Verbindungen zwischen Archiven und Vereinen funktionierten, wie die Projekte des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde e.V. bewiesen. Katrin Moeller betonte die Notwendigkeit, Modelle für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und kommerziellen Anbietern zu erarbeiten und hier zu neuen Ideenansätzen zu kommen. Edgar Hubrich stellte fest, dass in der genealogischen Forschung sowohl die kommerziellen Anbieter als auch die ehrenamtlich Tätigen gebraucht würden. Auch die Pflege der Beziehungen zwischen Vereinen und Archiven sei für ihn von großer Bedeutung. Peter Rassek empfand den Dialog als sehr konstruktiv. Wie er in seinem vorangegangenen Statement in der Diskussion sagte, seien die Vereine für ihn bedeutende Experten für die genealogische Forschung in ihren Regionen.